David Dürr hat versucht, dies zahlenmässig darzustellen. Seinen Überlegungen nach beträgt die Direkte Demokratie in der Schweiz gerade mal 0.33%!
Zählt man die Indirekte Demokratie, die mit 0.00064% aufgeführt wird dazu, kommen wir auf mikrige 0,33064% «Gesamtdemokratie»! Sehr bescheiden, was!?
Nach dem Hammer, den es erst einmal zu verdauen gilt, dürfen wir mit Zuversicht vorwärts schauen! Würde man die gleiche Überlegung an so genannten «Parlamentarischen Demokratien» anstellen, wären die Ergebnisse vermutlich im Nano-Bereich zu finden!
Wenn Menschen täglich fast als Erstes den Fiebermesser konsultieren um festzstellen, dass sie doch irgendwo oder -wie krank sein könnten, nennt man sie Hypochonder. Wie nennt man Menschen, die sich nur noch täglich an der Wallstreet, bzw. am Dax oder am einheimischen Aktienindex orientieren und dies der Ersatzfiebermesser ist? Es scheint, dass sie nicht minder einer Aktualneurose verfallen sind.
Alle reden vom Markt meinen oft aber Planwirtschaft. Die Regulierung von Finanzinstituten durch den Staat hat mit Markt kaum mehr etwas am Hut. Die Politik hat erkannt, dass Hebelprodukte der Finanzwirtschaft toxische Produkte sein können und sie daher verteufelt sind. Wie lässt es sich erklären, dass man in der EU darüber nachdenkt, die Schuldenkrise mit eben diesen verteufelten Hebelprodukten zu meistern? Der erforderliche Gegenwert für all das, was auf Pump schon ausgegeben wurde, ist nicht vorhanden. Private geben den Banken kaum noch Geld. Nun, der Staat kann es richten. Er wird die Notenpresse anwerfen und Inflation generieren. So nimmt man denen, die nicht geben wollen…
Viele reden von Innovation, vergessen dabei aber den echten Fortschritt. Würde man mittels Anamnese (Istzustand) eine Diagnose entwickeln und danach eine Therapie verschreiben, geht alles nicht, ohne die Ursache zu kennen, ansonsten wird Symptombekämpfung betrieben, müsste man die Ursache finden. Ich vermute die Ur-Sache in der Gier des Menschen. Die scheint auch die Urur-Grossmutter des Ökonomischen Prinzips zu sein, gegen welches, wenn es vernünftig und nachhaltig angewendet würde, nichts einzwenden wäre, ausser, dass eine soziale und eben eine nachhaltige Kompoente dazugehören müsste. Wir haben also mit Habgier, Vernunft und Nachhaltigkeit zu tun, was, je nach Gewichtung, weiteren Raum für Spekulationen bietet…
«Rezepte» rein theoretisch oder populistisch oder einfach chaotisch sind schnell zur Hand. Aber dann sind wir beim grossen Vereinfachen angelangt, was Christus, Mao, Hitler, Stahlin usw. auch schon probiert haben und an deren Folgen Menschen heute noch leiden – an den Folgen von Ideologien.
Dürr sagt bezüglich der Demokratie auch:
«(…) …Unterschiede gab (gibt) es eigentlich nur in der Nomenklatur: Der Babylonier nannte sein Regierungsystem Monarchie und sich selbst den Herrscher, die Berner nannten (nennen) das ihre Demokratie und das Volk den Souverän. )»
Ich komme zum Schluss, dass es sich bei einer parlamentarischen Demokratie (z.B. D), dass es sich im Wesentlichen um eine Diktatur, verteilt auf mehrere Köpfe (Diktatoren) handelt.
Die Lobbyisten kann man neutralisieren, sie spielen überall eine wichtige Rolle. Aber das Regieren wäre weit einfacher und gerechter, würde man sämtliche Lobbyisten aus den Vorzimmern und Wandelhallen der Parlamente verbannen! Ob die Verbannung ein geeignetes Mittel ist weiss ich nicht. Es bestände die Gefahr, dass einfach die Parteien unterwandert würden.
Es scheint, dass der mikrige Anteil an Demokratie in der Schweiz, der weit über dem Nanobereich anderer Regierungs-Systeme liegt, nachhaltige Wirkung erzielt. Schon alleine deswegen benötigen wir weder Kavallerie (Peer Steinbrück) noch fremde Soldaten Müntefering).
Bezüglich Steinbrück:
«(…) Wenn die deutsche Kavallerie das helvetische Indianerdorf einkreisen würde, kämen Steinbrücks Gefolgen auf Mulis angeritten. Bei Manitu. Seit dem Indianer-Kavallerie-Spruch unseres liebsten Böllimas, Peer Steinbrück, ist Feuer im Dach des Bundeshauses. Den teutonischen Kassenwart scheint dies nicht sonderlich zu kratzen. Überhaupt amüsiert sich Berlin eher über die Alarmstimmung in Bern (sofern sie wahrgenommen wird). «Verfügt die Bundeswehr noch über eine Kavallerie», fragte ein deutscher Journalist an der Bundespressekonferenz, «die notfalls in Gang gesetzt werden könnte, um irgendein Indianerdorf einzukreisen? Und wie lang ist deren Rüstzeit?»
Die Frage war – wie zuletzt so manches in der deutschen Hauptstadt zum Thema Helvetien – nicht ganz ernst gemeint. «Kavallerie hat meines Wissens mit Pferden zu tun», antwortete der Sprecher des Verteidigungsministers. Und drohte: «Wir haben Mulis bei der Bundeswehr, insbesondere im bayerischen Gebirge.»
Hugh (Quelle)
Bezüglich Müntefering:
«(…) Müntefering: «Früher hätte man Soldaten in die Steueroasen geschickt»
Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker hat sich gegen die Vorwürfe aus Deutschland zu Wehr gesetzt, sein Land sei ein Paradies für Steuersünder. SPD-Chef Franz Müntefering hatte gesagt, früher hätte man Soldaten in Steueroasen geschickt. «Wir waren schon mal besetzt, wir haben unter deutscher Besatzung gelitten», so Juncker.
Luxemburgs Premier Juncker hat von der Kritik aus Deutschland genug
Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker hat sich mit deutlicher Kritik an deutschen Politikern und der britischen Regierung gegen Vorwürfe gewehrt, sein Land sei ein Paradies für Steuerbetrüger. Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ verbat sich Juncker „scheinbar humorvolle“ Angriffe wie die von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD).
Steinbrück hatte vor Tagen die Steueroasen Luxemburg, Österreich und Schweiz in eine Reihe gestellt mit Ouagadougou, der Hauptstadt des afrikanischen Staates Burkina Faso. Dies hatte vor allem in Luxemburg, aber auch im Inland Verärgerung ausgelöst. Die Bundesregierung ist bemüht, die Wogen zu glätten. Burkina Faso forderte eine öffentliche Entschuldigung Steinbrücks.
Mit Blick auf Äußerungen von SPD-Chef Franz Müntefering zu Steueroasen, wonach man früher Soldaten dorthin geschickt hätte, sagte Juncker: „Wir waren schon mal besetzt, wir haben unter deutscher Besatzung gelitten.“ Deutschland sei bis Juli 2005 selbst das größte Steuerparadies Europas gewesen sei. Bis dahin habe kein nichtansässiger Ausländer Steuern auf Zinseinkünfte zahlen müssen. …)» Quelle
Bundesrat Didier Burkhalter meint heute 19. 10. 11) in der NZZ:
Die Schweiz – das liberalste Land in Europa Wir leben in unsicheren Zeiten, und in unsicheren Zeiten rufen die Menschen nach dem Staat. Müssen wir uns also damit abfinden, dass künftig das etatistische Denken dominiert? Nein, das Gegenteil trifft zu. Der Liberalismus wird stärker werden in Europa. Von Didier Burkhalter
Aus Schweizer Sicht drängt es sich gegenwärtig auf, die Schweiz und die EU einander gegenüberzustellen. Auf der einen Seite die Schweiz, deren Hauptproblem darin zu bestehen scheint, dass sie so erfolgreich und für die Märkte so vertrauenswürdig ist, dass der starke Franken zum überstarken Franken geworden ist. Entscheidend dabei sind nicht nur die Solidität der Schweizer Wirtschaft und die Verlässlichkeit ihrer Politik, sondern auch das Vertrauen, das unsere Nationalbank weltweit – und, noch bemerkenswerter: sogar in der Schweiz! – geniesst. Dieses Vertrauen zeigt sich eindrücklich darin, dass das Anfang September deklarierte Euro-Kursziel von mindestens 1.20 sozusagen in der ersten Minute erreicht wurde. Die globalen Märkte glauben an das, was die Nationalbank sagt. Was nicht überrascht, weil sie völlig unabhängig handelt und weil sie nur selten, dafür aber stets punktgenau kommuniziert.
Auf der anderen Seite die EU, insbesondere gewisse Euro-Länder, die unter ihrer Schuldenlast ächzen, zum Teil eine hohe oder sogar sehr hohe Arbeitslosigkeit aufweisen und mit beträchtlicher Unsicherheit in die Zukunft blicken.
Hatte also Friedrich Dürrenmatt recht mit seiner Prognose, die Welt müsse verschweizern oder untergehen? Dürrenmatt, mit seinem Hang zur umfassenden Diagnose – vielleicht verdankt sich dieser ja auch dem Weitblick, den er von seinem Haus über dem Neuenburgersee genoss -, Dürrenmatt also sprach von der Welt. Aber zumindest in Bezug auf Europa und dessen Schuldenproblematik scheint sein Befund ziemlich treffsicher zu sein. Das genial einfache Instrument der Schuldenbremse ist zum begehrten Schweizer Exportgut geworden. Von Berlin über Rom bis Madrid (und sogar Washington) wurde die Schuldenbremse installiert oder wird deren Einführung zumindest ernsthaft debattiert.
Was sehr technisch klingt – Schuldenbremse -, ist die Essenz unserer Wirtschaftskultur: disziplinierter Umgang mit knappen Ressourcen, Pragmatismus statt Anspruchsinflation, ein Grundreflex, der stets das Realistische und Realisierbare über das Maximale und letztlich Utopische stellt. Was also bürokratisch und etwas bieder anmutet, ist im Kern hochpolitisch. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Schuldenbremse in Frankreich «la règle d’or» genannt wird, was doch bedeutend eleganter klingt als «Schuldenbremse», aber halt auch nicht ganz so ernsthaft. Vielleicht sollte man die Schuldenbremse als «Règle suisse» patentieren lassen. Jedenfalls ist der Erfolg der Schuldenbremse ein Argument für «Präsenz Schweiz», welches die internationale Reputation unseres Landes ebenso stärken dürfte wie Berge, Kühe und Käse.
Was für Unternehmen gilt, gilt heute auch für Staaten: Eine gute Reputation ist entscheidend. Es braucht sehr lange, bis sie aufgebaut ist, aber man kann sie im Nu wieder verlieren. Deshalb ist es so wichtig, an unseren Grundprinzipien festzuhalten, auch in Wahlkampfzeiten und auch angesichts einer medialen Logik, die stets das Trennende betont und das Gemeinsame als langweilig verwirft. Die Schweiz hat ihre Krisen stets überwunden, indem sie sich zusammengerauft hat. Was uns verbindet, war stärker als das, was uns trennt: Die Willensnation ist ein «work in progress», sie muss sich ständig wieder neu erfinden. Unser politisches System bedeutet Arbeit und Hingabe. Aber die Resultate sind dafür so legitim, so nachhaltig und so stabil wie in keinem anderen Land, was auch einen Gutteil unseres wirtschaftlichen Erfolgs erklärt.
Darüber hinaus haben wir eine anerkanntermassen hohe Lebensqualität: eine Einschätzung, die etwas zu kollidieren scheint mit dem Unbehagen in der schweizerischen Bevölkerung, das sich gegenwärtig bei Themen wie Dichtestress, Migrationsdruck und Zersiedelung zeigt. Man könnte sich die Frage stellen, woher dieses Unbehagen und die starke Polarisierung kommen angesichts des insgesamt doch erfreulichen Zustands des Landes. Es ist zu vermuten, dass sich hier die Abstiegsängste der Mittelschicht manifestieren. Die Mittelschicht war seit dem Zweiten Weltkrieg unbestritten der Schwerpunkt der Gesellschaft, das Mass aller Dinge. Dieses Selbstverständnis erodiert seit dem Fall der Berliner Mauer. Dieser Folge der Globalisierung wird sich die Politik künftig mit höchster Priorität annehmen müssen. Sonst wird sich ein Klima der Besitzstandwahrung, der Reformfeindlichkeit und auch der kulturellen Abschottung ausbreiten, unter dem wir alle leiden werden. Denn dieses Klima greift genau das an, was die Schweiz im Innersten zusammenhält.
Blicken wir in die Zukunft, dann sehen wir Herausforderungen, die wesentlich grösser sind als der «gefühlte Reformbedarf». Die Gesundheitskosten trotz demografischem Wandel nachhaltig in den Griff zu bekommen und gleichzeitig die hohe Qualität des schweizerischen Gesundheitssystems zu erhalten – das ist ein Ziel, das einige Beobachter für illusorisch halten. Ich aber bin mir sicher, dass die Schweiz das schaffen kann, wenn sie ihre wichtigsten Ressourcen wie Reformkraft und Fortschrittsoptimismus wieder stärker mobilisiert. Wenn die Bürgerinnen und Bürger sich vergegenwärtigen, dass liberale Reformen vielen zugutekommen, die Zementierung des Status quo jedoch nur einigen wenigen.
Was Thomas Morus über das Wesen der Tradition sagte, gilt auch für unsere Sozialsysteme: «Tradition ist nicht das Aufbewahren der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme!» Bei der AHV gilt es, besonders wachsam zu sein, weil die finanziellen Dimensionen ungleich grösser sind als bei IV und ALV. Die AHV zahlt gegenwärtig jedes Jahr Renten in der Höhe von rund 40 Milliarden Franken aus. Ein finanzielles Abgleiten würde sehr schnell zu monströsen Fehlbeträgen führen, die kaum mehr abbezahlt werden könnten. Nur dank den im Rahmen der Personenfreizügigkeit zugewanderten Fachkräften verzeichnet die AHV gegenwärtig einen Überschuss von rund 2 Milliarden jährlich. Wir haben also ein wenig Zeit gewonnen für eine tiefgreifende Reform, aber an deren Alternativlosigkeit hat sich nichts geändert.
Dass das steigende Durchschnittsalter unsere Sozialversicherungssysteme bedroht, ist keine Frage der Ideologie, sondern eine Frage der Arithmetik. Wenn wir den Status quo bei der AHV erhalten wollen, bedeutet das ein Ausgabenwachstum von 2 bis 3 Prozent jährlich – einfach aus demografischen Gründen. Mit anderen Worten: Den Status quo gibt es nicht.
Es zeichnet sich auch ab, dass sich die Konkurrenz im Bildungs-, Forschungs- und Innovationsbereich verstärken wird. Der globale Wettbewerb ist im 21. Jahrhundert vor allem ein globaler Wettbewerb der Forschungsstandorte. Deshalb gilt es die beträchtlichen Fortschritte in Ländern wie Indien, China oder Brasilien genau zu beobachten und ernst zu nehmen. Die wichtigste Lektion der Schuldenkrise lautet: Der wirtschaftliche Erfolg hat immer politische Voraussetzungen. Und dass diese Voraussetzungen des Erfolgs immer wieder aufs Neue erkämpft werden müssen. In einer direkten Demokratie wie der unseren sind diese Zusammenhänge im Bewusstsein des Volkes verankert. Auch das ist eine Stärke der Schweiz.
Die Situation in Europa verändert sich gegenwärtig derart schnell und bleibt so unabsehbar, dass wir uns am besten auf das konzentrieren, was wir in Eigenregie gestalten können. Dies natürlich stets im Bewusstsein, dass es nicht nur den wirtschaftlichen Wettbewerb der Staaten und Regionen gibt, sondern auch Machtfaktoren, denen wir uns nicht ganz entziehen können. Aber der Kleinstaat ist dann am stärksten, wenn er seine eigene Stärke realistisch einzuschätzen vermag, wie uns Karl Schmid gelehrt hat. Föderation oder institutionalisierte Improvisation? Aus Schweizer Sicht ist in Bezug auf die weitere Entwicklung der EU nur eines sicher: die Unsicherheit. Wobei man nie vergessen sollte, dass die EU sich seit je von Krise zu Krise entwickelt. Fast jede institutionelle Weiterentwicklung der EU war eine Reaktion auf eine scheinbar ausweglose Situation.
Der bilaterale Weg ist und bleibt die beste Lösung für die Schweiz, weil sie auf diese Weise zahlreiche nachbarschaftliche Fragen pragmatisch regeln und gleichzeitig ihre Wahlfreiheit und damit ihre Souveränität bewahren kann. Aber wir wissen auch, was ein immer grösseres Europa – voraussichtlich am 1. Juli 2013 wird auch Kroatien EU-Mitglied – für unser Land bedeutet. Der bilaterale Weg wird steiniger, die Beziehungen werden volatiler, der Verhandlungsspielraum kleiner. Zumal, falls sich die EU in dieser Krise dazu anschicken sollte, sich noch stärker zu integrieren, zum Beispiel durch eine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik.
Die politische und wirtschaftliche Situation scheint in diesem Herbst in vielen Regionen der Welt so offen wie schon lange nicht mehr. Die Schuldenkrise in Europa und den USA wird kaum rasch überwunden werden können. Kurz: Wir leben in unsicheren Zeiten, und in unsicheren Zeiten rufen die Menschen nach dem Staat. Müssen wir uns also damit abfinden, dass künftig etatistisches Denken dominiert, dass der Liberalismus auch weiterhin einen schweren Stand haben wird?
Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Krise wird die liberalen Werte stärken und die Rolle des Staates klären, nicht nur in der Schweiz. Denn die vermeintliche Schwachstelle des Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung erscheint plötzlich in anderem Licht. Bisher galt es in gewissen Kreisen als ausgemacht, dass die liberalen Werte eigentlich nur den Gewinnern der Globalisierung dienen. Der Begriff «Eigenverantwortung» wurde in den letzten Jahren häufig als Worthülse verspottet – aber es ist genau die Tugend der Selbstverantwortung, welche die Schweiz unterscheidet von der in zahlreichen europäischen Staaten grassierenden Anspruchsmentalität. Eigenverantwortung ist Teil unserer nationalen Identität.
Wir wollen nicht, dass der Staat alles regelt und in jeden Bereich des Lebens hineinwuchert. Nicht zu verwechseln mit diesem omnipräsenten Staat ist aber ein starker Staat, der illegitimen Spezialinteressen kraftvoll entgegentritt – der das Allgemeinwohl und die Bereitstellung öffentlicher Güter ernst nimmt, ohne den Wettbewerb zu behindern. Auch diese essenzielle Unterscheidung, die in den letzten Jahren etwas zu verschwimmen drohte, dürfte künftig wieder an Akzeptanz gewinnen. Der sogenannte «schlanke Staat» wurde bis vor kurzem oft kritisiert als Chiffre für Sozialabbau und Gleichgültigkeit gegenüber den Schwachen. Heute sehen wir, dass nicht ein schlanker, sondern ein aufgeblähter und regulierungswütiger Staat letztlich zu Sozialabbau und gesellschaftlicher Unrast führt. Was noch schlimmer ist: zu einer Jugendarbeitslosigkeit, die in einigen Ländern so hoch ist (und wohl noch lange bleiben wird), dass man von einer «verlorenen Generation» zu sprechen beginnt. Das ist eine inakzeptable Entwicklung. Ein Land, das seiner Jugend die Lebenschancen verweigert, kann nicht mit sich selbst im Reinen sein. Denn dessen wichtigste Ressource – die Jugend – wird nicht genutzt.
Falls ich nur ein einziges Kriterium wählen dürfte, um die Qualität der Politik eines Landes zu messen, dann würde ich mich ohne Zögern für das Kriterium «tiefe Jugendarbeitslosigkeit» entscheiden. Punkto Jugendarbeitslosigkeit gehört die Schweiz mit einem Wert von 3,2 Prozent zur absoluten Weltspitze – in Spanien etwa beträgt dieser Wert 45 Prozent, in Portugal 30 Prozent. Das sind dramatische Zahlen. Die bemerkenswert tiefe Jugendarbeitslosigkeit in unserem Lande verdankt sich dem dualen Berufsbildungssystem, dem intakten Arbeitsethos, aber nicht zuletzt auch unserem flexiblen Arbeitsmarkt. Es sind liberale Werte, die zu sozialer Gerechtigkeit führen. Auch in den Gesundheits- und Sozialsystemen sind liberale Reformen unabdingbar, falls diese Systeme erhalten werden sollen. Wenn man sie immer mehr ausbaut, werden sie am Schluss zusammenbrechen. All jene, die die Prinzipien des Liberalismus vertreten – die Chancengleichheit, das Leistungsprinzip, die Eigenverantwortung -, haben derzeit eine gute Gelegenheit, konkret zu beweisen, dass sie mehr zu bieten haben als wohlklingende Phrasen. Denn heute sieht die ganze Welt, wohin das Gegenteil führt: zu Spannungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Milieus und zwischen den Generationen. Liberale Werte sorgen dafür, dass es den vielen besser geht, nicht nur den wenigen – vorausgesetzt natürlich, man nimmt sie wirklich ernst, also auch die Dimension der Verantwortung. Diese Erkenntnis ging in den letzten Jahren verloren. Die Krisen der Gegenwart bieten jetzt eine Chance, sich ihrer wieder zu erinnern.
Ich weiss natürlich, dass Pessimisten, die düster raunen über kommendes Unheil, als intelligenter, kritischer und wissender gelten als Optimisten, die stets der Grundverdacht begleitet, sie seien naiv. Trotzdem wage ich hier eine optimistische Sicht, was die weitere Entwicklung Europas angeht.
Der Liberalismus wird stärker werden in Europa, und zwar als Folge der Schuldenkrise. Zugegeben: Gegenwärtig ist eher von einer Renaissance des Marxismus die Rede, der alles regulierende Staat erscheint vielen als eine attraktive Option. Aber eine Renaissance dieses übermächtigen Staates wird keines der strukturellen Probleme lösen, unter denen zahlreiche europäische Länder gegenwärtig leiden.
Nur exzellente Bildungssysteme, ein hohes Arbeitsethos, eine vitale Innovationskultur und diszipliniertes Haushalten werden die Wettbewerbsposition Europas verbessern. «Fortschritt» ist ein eminent europäisches Konzept, auch wenn seine Anhänger heute in Asien und Amerika zahlreicher zu sein scheinen. Europa wird eine Formel finden müssen, die zu möglichst innovationsgetriebenem internem Wettbewerb anspornt, statt ihn in Vereinheitlichung oder immer engerer Koordination zu ersticken.
Der Staat des 21. Jahrhunderts wird, auch in Europa, ein Staat sein, der weniger mit finanziellen Ressourcen und mehr mit intelligenten Anreizen und klugen Regulierungen zu funktionieren lernen muss. Jetzt, nach der Ära der Anspruchsinflation, ist eine Phase der Disziplin angesagt. Der Sozialstaat wird wieder härter über die Finanzierbarkeit von Leistungen nachdenken müssen. Der Wert der Arbeit muss in seiner ganzen sinnstiftenden Kraft wiederentdeckt, allzu starre Vorstellungen über die «richtige» Erwerbsbiografie müssen revidiert werden.
Die EU-Schuldenkrise, aber auch der arabische Aufstand machen deutlich, dass die liberalen Werte essenziell sind, gar existenziell – und dass sie lange zu Unrecht desavouiert wurden als besinnliche Schnörkel in liberalen Sonntagspredigten.
Eine Stärkung des liberalen Gedankenguts ist auch eine Chance für die Schweiz, ihre Identität zu klären. Wir schwanken seit einiger Zeit zwischen allzu grossem und allzu kleinem Selbstbewusstsein. Gerade, weil sich unser Land wirtschaftlich allmählich zu einem globalen Cluster entwickelt, müssen wir uns darüber verständigen, wer wir sind und an welchen Werten wir uns künftig orientieren sollen. Vielleicht gelingt es uns, die gegenwärtigen Entwicklungen dazu zu nutzen, zu einem realistischeren Selbstbild zu gelangen. Zu einer adäquaten Antwort auf die Frage: Wer sind wir?
Ich schlage als Antwort vor: Wir sind das liberalste Land in Europa. Wir waren, in den Worten des Historikers Eric Hobsbawm, von 1848 bis 1870 «the only republic on the continent». Diese Traditionslinie belegt eine verblüffende Kontinuität, die wir nicht einfach als selbstverständlich abbuchen sollten. So gesehen, muss nicht nur Europa verschweizern – sondern auch die Schweiz. Eine liberale Schweiz, die sich ihrer Geschichte stärker bewusst ist, ist auch eine selbstbewusste Schweiz. Dieses Selbstbewusstsein wird unser Land für seinen weiteren Weg brauchen können.
Bundesrat Didier Burkhalter ist Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern. Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung einer Rede, die er am 10. Oktober 2011 vor dem Schweizerischen Institut für Auslandforschung an der Universität Zürich gehalten hat.
Würde die Schweizer Politik ihr System beratend nach Ansätzen der grossen Beratungsfirmen (Boston Consulting Group, McKinsey & Company usw.) anderen, Staaten verkaufen, würde es uns noch eine Spur besser gehen…!
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